Tribute 2022: Fabrice du Welz

Biographie

Der belgische Filmemacher Fabrice du Welz ist das, was man als Autorenfilmer bezeichnet, ein Künstler, der einer Bestimmung folgt: In einem Gespräch an der Sorbonne sagt er im März 2021, er möchte mit jedem Film ein besserer Mensch werden.

Geboren 1972 in Brüssel, besucht er eine Jesuitenschule und studiert zunächst zwei Jahre Schauspiel, dann ein Jahr Theaterregie. Ab 1990 realisiert er Super-8-Filme, 2004 seinen ersten Langfilm, Calvaire, der bei der Semaine de la Critique am Filmfestival in Cannes uraufgeführt wird. Calvaire ist der erste Teil der „trilogie ardennaise“, die du Welz in den Wäldern der Ardennen dreht. Die beiden weiteren sind Alléluia (2014) und Adoration (2019). Sein aktuellster Film ist Inexorable, in dem du Welz die erprobten Genre-Elemente Bürgerlichkeit, einsames Schloss und Kindermädchen interpretiert.

Fabrice du Welz, dem das Filmschauen laut eigenen Aussagen von den Jesuitenpatern vermittelt wurde, ist immer wieder Gastlehrender an Filmhochschulen und betreibt im Privaten einen ciné-club, in dem er seinen Kindern die Liebe zum Kino weitergibt. Er lebt in Brüssel.


 

Essay

Aufgeladene Beziehungen

Anna Katharina Laggner

Jeder vernünftige Mensch weiß, dass ein Wald nicht nur eine bloße Ansammlung von Bäumen ist. Der Wald ist Rückzugsort und Versteck, er ist genauso endlos wie klaustrophobisch, ein natürlicher Raum, in dem der Mensch auf der Suche nach dem urtümlichen Wesen, das in ihm steckt, von den eigenen Dämonen heimgesucht wird. Fabrice du Welz weiß um diese Bedeutungen und lädt seine Werke damit auf. In seinen bisherigen Filmen kommt urbanes Leben nicht vor, sie spielen in und mit der Natur. Selbst wenn, wie in Vinyan (2009), Szenen in einer Stadt spielen, ist sie wie ein Dschungel: Das Ehepaar, das gefolgt von einer erratischen Kamera durch eine thailändische Stadt irrt, ist in Dunkelheit, Lärm und Regen gefangen. Jeanne (Emmanuelle Béart) und Paul (Rufus Sewell) haben ihren fünfjährigen Sohn während des Tsunami verloren und finden im scheinbar letzten Winkel dieser unwirtlichen Urbanität einen Mann, der ihnen verspricht, den Sohn zu finden. Er führt sie auf eine Insel, wo sie sich durchs Dickicht schlagen, buchstäblich im Gatsch versinken und von einer Horde anarchischer Waisenkinder in den Wahnsinn getrieben werden. Nicht nur in Vinyan bedient Fabrice du Welz alle Elemente: Es brennt, es donnert, wo auch immer man hinschaut steigt Nebel auf. Und wenn so etwas wie Ruhe aufkommen könnte, dann macht Paul sich über seine Frau her, der Sexualakt als Symbol für die Brutalität des Überlebens.
 
Fabrice du Welz macht Filme über Beziehungen als Horte der Gewalt und Bedrohung, der Manipulation und Abhängigkeit. Filme, in denen Zwangsvorstellungen, Wahn, die dunklen Seiten einer Persönlichkeit im Zwischenmenschlichen ihre Vollendung finden. Denn Irrsinn allein ist ja nicht bedrohlich, Irrsinn manifestiert sich im Verhältnis zu dem, was als Normalität gilt. Diese Filme sind Abwärtsspiralen im Schritttempo, aus denen das Personal aussteigen könnte, wäre es in seinem Festhalten am einmal eingeschlagenen Weg nicht derart blind für diabolische Zeichen. Nur wir Zuseher*innen wissen den gezielten Einsatz der Farbe Rot zu deuten.
 
In seinem ersten Langfilm, Calvaire aus dem Jahr 2004, lernen wir den Alleinunterhalter Marc (Laurent Lucas) kennen, der die Insass*innen eines Altenheimes mit seinen Gesängen derart beglückt, dass nicht nur eine in wildem Verlangen nach ihm entflammt. Er sucht das Weite. Und findet sich mit seinem Transporter in einem Wald wieder. Es regnet in Strömen und ein offenkundig Irrer, der nach seiner entlaufenen Hündin sucht, weist ihm den Weg zu einer einsamen Herberge, in der ihn ein alter Grattler enthusiastisch empfängt. Der Widerspruch in dessen Charakter wird Marc erst dämmern, als er bereits mitten in einem Martyrium („calvaire“ bedeutet Kalvarienberg und Leidensweg) steckt, durch das ihn dieser sprücheklopfende Monsieur Bartel („nur Hartnäckigkeit wird belohnt“) mit steigender Brutalität jagt, offensichtlich angetrieben durch den Verlust seiner Ehefrau Gloria. Andeutungen auf sexuelle Perversionen komplettieren das Bild.
 
In Texten, die ich über die Arbeit von Fabrice du Welz gelesen habe, ist mir immer wieder das Eigenschaftswort „extrem“ untergekommen. Ich würde Fabrice du Welz´ Filme zwingend oder düster nennen, sinister und in ihrem übersteigerten Einsatz von Psychothriller-Elementen fast anachronistisch. Sie scheuen sich nicht vor Wiederholungen und beziehen sich lose aufeinander. Diese Filme zitieren zigfach bediente Bilder von Geisterhäusern, weit aufgerissenen Kinderaugen, schwarzen Ästen und schrammen haarscharf an der Ironie entlang. Extrem sind sie schon allein deswegen nicht, weil man als Zuseher*in Sicherheit ist, selbst wenn das Blut spritzt und offensichtlich geknechtete Seelen Unschönes im Schilde führen. Aber vielleicht ist es heute extrem, das zu tun, wonach einem der Sinn steht. Das tut Fabrice du Welz.
 
Bedächtig wirft er seine Nebelmaschine an und schickt in praktisch jedem Film eine Gloria auf den Plan, der alle und alles zu folgen haben: In vier von fünf Langfilmen spielt eine Gloria die Hauptrolle und nicht nur hier schimmert du Welz´ katholische Internatsvergangenheit durch. Einen Film über ein Serienkiller-Paar, das von der realen Geschichte der so genannten Lonely Hearts Killer der späten 1940er Jahre inspiriert ist, nennt er Alléluia (2014) und überhöht darin die Liebe zwischen dem Frauenhelden Michel (Laurent Lucas) und der Leichenwäscherin Gloria (Lola Dueñas) zu einem erotisch aufgeladenen Blutspektakel.
 
Direkt idyllisch beginnt sein nächster Film, Adoration aus dem Jahr 2019: Sommersonnenlicht strahlt durch grüne Blätter, ein blondschopfiger Junge befreit einen Vogel, der sich in einer Schnur verwickelt hat. Und genauso arglos wie er mit dem Vogel verfährt, wird Paul sich für ein in einer psychiatrischen Klinik (Architekturtypus Geisterhaus) festgehaltenes Mädchen einsetzen. Gloria, konsequent in Rot gekleidet, ist als notorische Lügnerin eine Wahnsinnige der manipulativen Sorte. Nachdem die Klinikleiterin außer Gefecht gesetzt ist (Filmbild Mensch segelt durch ein Stiegenhaus), türmen Gloria und Paul in den Wald. Dort werden sie bleiben, diese beiden Zwischenwesen, die nicht mehr Kind, aber noch nicht jugendlich sind, sie werden ihre Körper erkunden, sich durch Flüsse treiben lassen, rote Ribisel essen und Gloria wird im Angesicht eines Huhnes in Panik verfallen. Sie gibt den Ton an, Paul, gefangen in einem Traumdschungel, ist der Erfüllungsgehilfe ihres Wahnsinns.
 
Nun könnte man urteilen, dass die Männer bei du Welz triebgesteuerte Wesen sind, die über jeder Gloria, die um die Ecke biegt, ihren Kopf verlieren. Dass dem nicht ganz so ist, beweist der Schriftsteller Marcel (Benoît Poelvoorde) in Inexorable, dem als Erstem gewisse Zweifel über die Arglosigkeit des Kindermädchens Gloria kommen. Aber niemand hört auf ihn. Seine Frau Jeanne (auch dies ein Frauenname, der bei du Welz wiederholt vorkommt und von sich aus ein riesiges Charakterarsenal inklusive Held*innentum und grausamem Tod mit sich bringt) ist zu sehr damit beschäftigt, die Renovierung des geerbten Schlosses zu orchestrieren und nimmt im sommerlichen Idyll einer mit ihrem Hund und ihrem Kindermädchen in der Wiese spielenden Tochter die überdeutlichen Zeichen nicht wahr. Die Tochter Lucie (die Erleuchtete, deren Name aber doch auffallend nahe am Luzifer liegt) sieht in Gloria ihre lang ersehnte Schwester. Marcel kapituliert, nicht zuletzt, weil er die Hoffnung hegt, dass ihm mit der Nanny das gelingt, was ihm mit seiner Frau nicht gelingt (einen hoch zu kriegen). Wodurch er wiederum blind wird für das Scheusal, das in der Gloria steckt. Also doch den Kopf verloren. Von dieser Art sind die Abwärtsspiralen bei du Welz gestrickt.
 
Das einzige unbescholtene Wesen in Inexorable ist ein weißer Hund. Da er aber nach dem größten aller griechischen Helden benannt ist, jenem, der für Stärke, Listenreichtum und einen ausgeprägten Familiensinn steht, ist auch dem Hund Ulysse nicht über den Weg zu trauen. Außerdem bringt er das unheilvolle Kindermädchen überhaupt erst ins Haus. Ein altes Schloss, das mit seinen Zinnen und einer abblätternden Patina einsam inmitten von hohen Wiesen und Bäumen steht. Hier, genauso wie schon in Adoration, liegt es vor uns: das ikonographische Bild des haunted house. Das verwunschene Schloss unter dem blauen Nachthimmel inmitten des Waldes, man hört ein Käuzchen rufen oder bildet sich diesen Ruf zumindest ein. Aber kein einziger Geist spukt durch die leeren Gänge und gewundenen Stiegenhäuser. Selbst wenn urplötzlich wie von Geisterhand das Licht ausfällt, selbst wenn die bösen Träume kommen, selbst wenn jemand Bisswunden hat, hier ist über allen Wipfeln Ruh. Nur die Menschen selbst sind besessen. Und auch die nur von den eigenen Lügen, von handfesten Psychosen und anderen Dingen, die einen Namen haben. Doch konkret diese Verankerung in einem realistischen psychologischen Kosmos macht die Filme von Fabrice du Welz aus.


 
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Foto: Kris Dewitte

Tribute Talk

Fabrice du Welz (BE)
in Kooperation mit der Kunstuniversität Linz
– Zeitbasierte und Interaktive Medienkunst
Moderation: Neil Young
in englischer Sprache
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