Tribute 2024: Aliona van der Horst (NL)

Aliona van der Horst ist eine Meisterin der Bildsprache. Wie keine andere kann sie eine Geschichte erzählen, in der sich Bild, Ton, Musik und – oft spärliche – Unterhaltungen ergänzen und gegenseitig verstärken. Sie entdeckt Schönheit an Orten, an denen man sie nicht vermuten würde. (Nicole Santé, businessdoceurope.com)


 

Jenseits der Trümmerhaufen der Erinnerung


Der Trümmerhaufen der Erinnerung: Sein Inhalt ist so vielfältig.
Wie ein Mann einst sagte, der seitdem verstorben ist:
Hässlichkeit ist Schönheit,
die die Seele nicht fassen kann.
 
Aus dem Gedicht „Während eine Eisschicht Granit bedeckt“ (1997) von Boris Ryzhy


„Gerlachs Bauernhof ist wie ein Regentropfen, der die Welt widerspiegelt“, meinte die niederländische Dokumentarfilmemacherin Aliona van der Horst (*1970, Moskau) kürzlich in einem Interview über ihren jüngsten Film, GERLACH (Co-Regie: Luuk Bowman).
 
Ihre Arbeit enthält viele solcher Regentropfen. Kleine Spiegel für große Geschichten. Nehmen wir nur Gerlach. Die Titelfigur ist bedrohlich als letzter Bauer bezeichnet worden. Einen Steinwurf vom niederländischen Flughafen Schiphol entfernt, wurde sein Ackerland allmählich von allen Seiten durch Kreuzungen und Kreisverkehre, Verteilerzentren und Tankstellen eingezwängt. Als stillen Protest gegen die überragenden goldenen Bögen des Neon-Ms einer amerikanischen Fastfood-Kette nebenan hat Gerlach ein hölzernes G aufgestellt, als Werbung für die Erdäpfel, die er in seiner Scheune verkauft. Die sich auch für Pommes Frites eignen.
 
GERLACH ist van der Horsts vielleicht narrativste, dennoch aber beobachtende Dokumentation. Wir begleiten den Bauern durch die Jahreszeiten, beim Eintritt in seinen letzten Lebensabschnitt. Nicht nur sein Hof, auch seine Gesundheit ist bedroht, vom Rheuma. Als GERLACH im Rahmen des Internationalen Dokumentarfilmfestivals Amsterdam 2023 den Preis für den besten niederländischen Film erhielt, verstand ihn die Jury unter einem globalen Blickwinkel und erkannte darin Landenteignung und die Bodenausbeutung durch intensivierte und industrielle Landwirtschaft als Themen. Weitere wichtige Stränge und Parallelen im Film sind etwa die zerstörerischen Auswirkungen von Spätkapitalismus, neoliberaler Wirtschaftspolitik und der daraus resultierenden Klimakrise. Im Laufe wochenlanger Regenfälle werden Gerlachs Anbauflächen überflutet, wodurch prophetische Bilder entstehen, die den Moment, in dem die Niederlande ihren Kampf gegen den ansteigenden Meeresspiegel verlieren, voraussehen.
 
Für all diese Beobachtungen gäbe es aber keinen Platz, würde der Film nicht wie alle ihre Werke kontemplative Räume erschaffen und sich ungestört Zeit nehmen, Details zu betrachten, herumzustreifen zwischen Peripherem und Ephemera. Um auf Gerlachs Hände zu blicken, die Körner von einer jungen Weizenähre reiben, um zu prüfen, ob sie schon reif sind, oder die bedächtig die Erde aufwühlen. Seine Welt offenbart sich in einem Sandkorn. Gleichermaßen verteilen sich van der Horsts künstlerische Intentionen stets in einer Welt unendlicher Möglichkeiten. Und egal wie düster und traumatisch die Themen ihrer Filme sein mögen, so finden sich doch immer Momente der Unbeschwertheit, der absurden Komik. Ohne die Absurdität der Komik ist es schwer, die Emotion zu finden. Der Wechsel von Humor und Ernst macht es erträglich.
 
Genau wie Gerlach den Himmel und die Erde begutachtet und Details bemerkt, die niemand sonst sehen würde, blickt van der Horst auf die Zeit und die Geschichte. Nach dem Tod ihres Vaters stieß sie kürzlich auf einen Studierendenfilm, in dem sie Menschen über deren erste Erinnerungen befragt. Vielleicht war er das fehlende Glied zur Erkenntnis, wie wichtig die Themen von Zeit, Gedächtnis und Erinnerung in ihren Arbeiten sind. Ihren ersten großen Film, ein Porträt des jung verstorbenen russischen Dichters Boris Ryzhy (2008), konnte sie auf nichts weiter fußen lassen als vagen Schwarzweiß-Bildern und den Erinnerungen seiner Familie und Freunde. Und auf seinen Worten, die eine Zeit des Umbruchs beschreiben. Von Perestroika und Chaos, vom Erwachen vom sozialistischen Trugbild, hinein in die Realität eines Verbrecherkapitalismus, in dem alle, die nicht schlau oder schnell genug waren, um erfolgreich zu werden, am Friedhof endeten. Geduldig filmt sie all die Grabporträts, die wie graue Geister in die Grabsteine aus schwarzem Marmor graviert sind. Sie verwendet ihre Kamera aber auch, um die Gesichter der jungen Männer und Frauen zu studieren, die ebenso alt sind wie Ryzhy, als dieser mit 26 Jahren in jenem Altmetall-Bezirk von Jekaterinburg, den er in mehr als tausend Gedichten angefaucht und besungen hatte, seinem verzweifelten Leben ein Ende setzte. Es hätte ihr Leben sein können, wäre ihre Mutter nicht ihrem niederländischen Vater begegnet, und wäre sie nicht auf einer anderen Seite der Geschichte aufgewachsen.
 
Auch für LIEFDE IS AARDAPPELEN (2017) und TURN YOUR BODY TO THE SUN (2021) kehrte sie nach Russland zurück. In LIEFDE IS AARDAPPELEN untersucht sie im Haus, in dem ihre Mutter aufwuchs, ihre eigene Familiengeschichte. Sie findet dort Briefe und Fotos als Zeugnisse für die dramatischen Ereignisse, die die Bauernfamilie während der harten Jahre unter Lenin und Stalin zu erdulden hatte. Die Schwarzweiß-Animationen des italienischen Animatoren Simone Massi liefern einen symbolhaften Kommentar zu all dem, worüber die Familie schwieg: Angst und Überleben, Unglauben und Propaganda. Die noch lebenden Schwestern der Mutter haben sogar die Zeiten der staatlich verursachten Hungersnöte ausgeblendet. Verdrängte Erinnerungen.
 
TURN YOUR BODY TO THE SUN erforscht eine weitere Familiengeschichte: jene der Schriftstellerin Sana Valiulina, deren Vater zuerst die Kriegsgefangenenlager der Nazis überlebte, um dann in Stalins Gulags gesteckt zu werden. Auch hier verleihen Briefe und Tagebücher dem, worüber nicht gesprochen wurde, Worte: dem Tabu bezüglich der Millionen, die ihr Leben in der Gefangenschaft verloren. Van der Horst ergänzt diese Worte durch kontaminiertes Archivmaterial: Militär-Propagandafilme, die sie verlangsamt und auf die sie einzoomt, bis diese ihrer ursprünglichen Bedeutung entledigt sind. Bis nichts bleibt außer ein letztes Körnchen Film. Der letzte Mikrokosmos des Gedächtnisses.
 
Aliona van der Horsts Filme sind essayistisch und zugleich klassisch dokumentarisch. Sie entstehen aus umfangreicher Recherche und einer beobachtenden Arbeitsweise, oft in enger Zusammenarbeit mit anderen. Bei ihren ersten Filmen arbeitete sie eng mit der Kamerafrau und Editorin Maasja Ooms zusammen. Diese ist auch als Co-Regisseurin von VOICES OF BAM (2006) genannt, der auf den Trümmern des Erdbebens, das die Stadt zerstörte, gedreht wurde. Als van der Horst auf der Schwarzen Liste des Regimes landete, kehrte Ooms zurück, um den Film zu drehen, den beide später in der Montage zusammenstellten, um eine Wachrufung im fast wörtlichen Sinn zu erschaffen. Van der Horst kreierte das Libretto für einen Stimmenchor, der das zurück bringt, was wir nicht mehr sehen: die fehlenden Leben der Familienmitglieder und geliebten Menschen.
 
Abwesenheit beschwört in ihren Filmen durch den Gebrauch solcher künstlerischer Interventionen stets Gegenwart herauf. Oft, aber nicht ausschließlich unter repressiven Regimen ist es der Fall, dass Kunst als Brutstätte und Zufluchtsort des Trosts, der Reflexion und der kritischen Diskussion betrachtet und erlebt wird. Für die Freilegung der Vergangenheit und für befreiende Blickwinkel darauf, was Menschsein bedeutet. Diese künstlerischen Kreuzungen (vergessen Sie nicht darauf, ihren Filmen zuzuhören, denn Ton und Musik sind immer wesentlich) erschaffen meditative Räume, in denen das Spekulative dem Unaussprechlichen eine Stimme verleiht. Das lässt sich auch in WATER CHILDREN (2011) ausmachen, in dem van der Horst gemeinsam mit der japanischen Pianistin und Performance-Künstlerin Tomoko Mukaiyama mittels filmischer Performativität eine Kathedrale aus Zehntausenden fast durchsichtigen weißen, mit Menstruationsblut befleckten Kleidern aus Seide baut. Ein Denkmal in Erinnerung an die Tabus rund um Menstruation, Fehlgeburt und die Menopause.
 
Seit BORIS RYZHY dient ihr ein Zitat des Dichters als Motto ihrer Arbeit: „Hässlichkeit ist Schönheit, die die Seele nicht fassen kann.“ Darin klingen andere Sätze nach, von anderen Dichtern wie Francis Bacon oder Edgar Allan Poe, der ganz ähnlich sagte: „Es gibt keine Schönheit ohne Fremdheit.“ Oder Rainer Maria Rilke, der es in seinen „Duineser Elegien“ so beschrieb: „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.“ Aliona van der Horst führt uns jenseits der Trümmerhaufen der Erinnerung, nimmt die Spiegelungen der vergangenen Schrecken und jene Schrecken, die wieder zum Vorschein kommen könnten, und kehrt damit zurück zu den Dringlichkeiten und Vorsätzen der Gegenwart. (Dana Linssen)
 
Dana Linssen ist eine niederländische Filmkritikerin, Philosophin und Autorin.




© Masha Osipova