Architektur und Gesellschaft 2012

Transition Spaces – Nowhere Places: Von Durchgangsräumen, Wartezonen und „anderen“ Orten

(Lotte Schreiber, Kuratorin)

1966 träumte der französische P hilosoph Michel Foucault von einer wissenschaftlichen Disziplin, die die „vollkommen anderen Orte“ einer Gesellschaft erforschen sollte. E r verwendete für diese besonderen Räume den Begriff der Heterotopie, der sich aus dem griechischen hetero (anders) und topos (Ort) zusammensetzt. Als Beispiele für Heterotopien nannte Foucault unter anderem Jugendund Altenheime, psychiatrische Kliniken und Gefängnisse – O rte, an denen von der herrschenden Norm abweichendes Verhalten ritualisiert und lokalisiert wird. E r stellte fest, dass diese Art der Räume in besonderer Weise die gesellschaftlichen Verhältnisse reflektieren, indem sie diese repräsentieren, negieren oder umkehren.

Foucaults Annahme, dass jede Gesellschaft neue Heterotopien hervorbringen könne, bestätigt sich nicht zuletzt dadurch, dass im postkolonialistischen E uropa des 20. und 21. Jahrhunderts ein gänzlich neuer Typus erschaffen wurde: der des sogenannten Auffanglagers auf der einen Seite, der des Übergangszentrums auf der anderen. Vordergründig als „temporäre Unterkünfte“ konzipiert, also als spezielle Formen von Transiträumen, dienen diese institutionellen O rte in erster Linie dazu, deren Insassen einer strengen Kontrolle zu unterwerfen.

Das diesjährige, in Kooperation mit dem afo architekturforum oberösterreich zusammengestellte Themenprogramm möchte einer Aktualisierung des Foucault’schen Heterotopie-Begriffs nachgehen und präsentiert vier Dokumentarfilme, die uns E inblick in unterschiedliche Formen dieser „andersartigen Orte“ gewähren. Einer davon ist das Schubhaftgefängnis Frambois in Genf. Jedes Jahr werden in der Schweiz Tausende unbescholtene Männer und Frauen ohne Verfahren und ohne Verurteilung in einem der 33 Ausschaffungsgefängnisse des Landes inhaftiert. Sie können dort für bis zu achtzehn Monate eingesperrt werden, bevor ihnen die Abschiebung droht. Der Regisseur Fernand Melgar hat sich für seinen eindrucksvollen Dokumentarfilm Vol Spécial in die Haftanstalt Frambois begeben und erzählt vom perspektivenlosen Alltag der Männer, die dort ausharren müssen, in Ungewissheit darüber, wann und wohin sie abgeschoben werden. Im Ungewissen gelassen werden auch die drei MigrantInnen in Steffen Köhns und P aola Clavos Film Sag mir wann…. Auf ihrem Weg nach E uropa sind sie, wie so viele, im Center for the Temporary Stay of Immigrants in der spanischen E nklave Melilla gestrandet und warten dort seit Jahren auf ihr Weiterkommen. E in O rt, der seinen BewohnerInnen nur für einen begrenzten Zeitraum ein Zuhause ist, steht auch im Mittelpunkt von Christophe Hermans’ einfühlsamer Dokumentation Les enfants. Der Film erzählt aus dem Innenleben eines belgischen Kinderheims, und gewährt uns E inblick in den Alltag der kleinen BewohnerInnen und deren BetreuerInnen zwischen Windel wechseln, E lternbesuchen und Teambesprechungen. E inen Durchgangsort im traditionellen Sinn präsentiert Il Castello der beiden italienischen Regisseure Massimo D’Anolfi und Martina P arenti. E in Jahr lang filmten sie auf dem Mailänder Flughafen Malpensa, um den dortigen Alltag festzuhalten und uns E inblicke in die restriktiven Sicherheitsmaßnahmen dieses Transitraumes zu eröffnen.

 

Filme der Sektion: