Nachtsicht 2009

Nachtsicht 2009

(Markus Keuschnigg, Kurator)

In Zeiten umfassender Digitalisierungen, in denen man Selbstdarstellungsträume in virtuellen Selbstdarstellungsräumen befriedigt, in denen Social-Networking- Plattformen wie Facebook ein Wir behaupten, in Zeiten wie diesen wälzen, prügeln und keuchen sich wieder verstärkt unmodulierte (Männer-)Körper auch durch das europäische Genre-Kino. Die Nachtsicht wird 2009 deshalb gleich von zwei Kerls in den Schwitzkasten genommen: Der erste ist JeanClaude Van Damme, belgischer Kampfsportkünstler und Actionkino-Ikone, feiert im diesjährigen Eröffnungsfilm JCVD ein eindrückliches Comeback. Die unkaputtbare Leinwand- Persona Van Dammes nimmt der junge Franzose Mabrouk El Mechri zum Ausgangspunkt für eine originelle und gewitzte Verhandlung zu Ruhm und dessen Vergänglichkeit, zu Selbstdarstellungen und deren Implosion: Die neuen „Muscles from Bruxelles“ sinken in ein berufliches und privates Tief, werden schließlich während eines Banküberfalls in Geiselhaft genommen. El Mechri demontiert Van Damme und lässt ihn sich selbst neu erfinden. JCVD kratzt den Menschen aus einer Pop-Figur, die britische Produktion Bronson geht den umgekehrten Weg. Aus Fragmenten der Biographie von Michael Gordon Peterson vulgo Charles Bronson, Großbritanniens bekanntestem Langzeitgefangenen, baut Nicolas Winding Refn einen flirrenden, stilisierten Popfilm: Bronson ist ein provokanter, brutaler Höllenritt durch das grotesk verzerrte Leben des Proto-Psychopathen, für den das Kaputtschlagen seiner Mitmenschen weniger Destruktion und Verzweiflung als Kreation und Befreiung bedeutet, der in seiner Gefangenschaft beginnt zu malen, zu dichten, zu schreiben.

Die aufregenden Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Brutalität, zwischen vordergründiger Schönheit und hintergründiger Grausamkeit, treiben viele Genrefilme an, sind aber wohl in keinem Werk so allumfassend formuliert wie in dem von Dario Argento. Der Italiener hat den modernen Horrorfilm mit erfunden, hat in seinen Arbeiten zeitgeistige Ästhetiken mit jenen aus vergangenen Jahrhunderten zu ewigen Kinoopern alchemisiert. Argento, der Musiker, Autor, Filmer, Gesamtkünstler hat die Umwälzungen in der Genreproduktionslandschaft nach dem Aufwallen der Heimkino-Haltung nur schwer lädiert überlebt, und soll in der diesjährigen Nachtsicht mit der „Mütter“-Trilogie (bestehend aus Suspiria, Inferno und La Terza Madre) auch eine Ahnung geben von der Geschichte des europäischen Horrorfilms. Und der erlebt seit einigen Jahren eine außergewöhnliche Renaissance. Zumindest theoretisch: Denn die meisten dieser Entwürfe schaffen, trotz teilweise großen Erfolgen in ihren jeweiligen Produktionsländern, den Sprung auf die österreichischen Leinwände nicht. Das liegt an mutlosen Filmverleihern, das liegt am DVD-Markt, auf den die neuen europäischen Genrefilme zumeist direkt, also ohne Kinoauswertung, geworfen werden, das liegt aber auch am nach wie vor wirkenden Wertigkeitsgefälle zwischen dem Genrekino und dem so genannten Kunstkino. Eine Situation, unter der nicht zuletzt die jungen, aufstrebenden Talente wie der Spanier Nacho Vigalondo leiden: Dessen vertrackter Fantasy-Thriller Los Cronocrimenes ist in den USA in den Kinos gelaufen, wird in Hollywood schon neu gedreht, ist in Europa aber noch so gut wie unbekannt.

Dass all diese schönen, exzessiven, vulgären und hemmungslosen Filme nicht für immer verschwinden, sondern auch ihr Publikum finden, das liegt dann doch zum Teil am Internet: an den Blogs, die James Watkins’ harten Überlebenshorrortrip Eden Lake loben, an den Facebook-Usern, die sich in die Nazi-Zombies aus der norwegischen Splatter-Sause Død Snø verliebt haben, an den Communitys, die wie ein virtuelles Kommunalkino bewerben, verstreuen, beleben. Nur zeigen, das kann das Internet nicht. Jedenfalls nicht gut. Die Nachtsicht 2009 will also all den Filmen und denen, die sie sehen wollen einen realen Raum geben, will mit ihrem Programm zeigen, wie direkt das Genrekino den Zuseher betrifft, wie intensiv man seinen Körper im Kino spüren kann. Es sind Filme wider die Abstraktion und für die konkrete Sensation. Filme, die sich Charles Bronson und Jean-Claude Van Damme nach einem anstrengenden Tag im Kino ansehen würden. Die ganze Welt in der Reflexion einer Rasiermesserklinge. Das ganze Kino, ein aufgepumpter Bizeps.

 

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