Nachtsicht 2011

Lagerfeuergeschichten

(Markus Keuschnigg, Kurator)

Genrekino beruhigt. Es ordnet vertraute Elemente in neuen, überraschenden, radikalen Kombinationen an: Geschichten über das Monströse und Verdrängte, über das Lustvolle und Schmerzhafte, die sich immer wieder an den Zeitgeist anpassen lassen. Der Vampir mutiert vom folkloristischen Strigoi zum schauergotischen Vlad Dracula zum urbanen Verführer zum bleichen, asketisch dahin darbenden Herzensbrecher. Das Kino im Allgemeinen, im Besonderen aber das Genrekino erscheint als Fortsetzung all jener Geschichten, Legenden und Mythen, die von Generation zu Generation weiter erzählt worden sind.

Die Parallelen liegen auf der Hand. Einerseits führen beide zu einer unmittelbaren Reaktion: Man lacht, schreit, sinniert darüber oder hat Angst davor. Andererseits führen sie zu Einsichten, warnen vor Gefahren oder unmoralischem Verhalten. Der Umgebungsraum im Kino ist abgedunkelt, fast als säße man vor einem Lagerfeuer: Als Zuschauer muss man sich der Ausdruckskraft eines Erzählers unterordnen, ist ungleich den Langstrecken-Dramaturgien in einem Buch oder Videospiel dem momentanen Handlungsfluss und den Spannungskurven ausgeliefert. Auch deshalb ist das Kino ein Medium der konkreten Gefühle: Schon ein kleines Stolpern genügt, und die fragile Spannung innerhalb der Geschichte bricht in sich zusammen.

Die diesjährige Nachtsicht-Selektion bildet diesen ewigen Charakter des Genrekinos ab: Der Eröffnungsfilm Burke and Hare nimmt sich etwa einem historischen Fall aus dem Edinburgh der Jahre 1827/1828 an, als zwei irische Tagelöhner aus finanziellen Gründen zu Serienmördern wurden. Eine tatsächliche Begebenheit, die sich im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte immer stärker fiktionalisiert hat, die eingesickert ist in den Geschichten-Pool des kulturellen Gedächtnisses. 2010 schließlich verfilmt der Amerikaner John Landis die Geschichte von „Burke and Hare“ neu, produziert von den erst vor wenigen Jahren wieder eröffneten britischen Ealing Studios, und moduliert nach deren berühmten „Ealing Comedies“, bissigen und zuweilen abgründigen Komödien.

Auch der junge Franzose Franck Richard speist sein freches Gesellenstück La meute mit Versatzstücken aus mehreren Jahrzehnten Horrorfilmgeschichte: Aus seiner eklektischen Kombination von wiedererkennbaren Zutaten, von abgelegenen Motels bis hin zu Fleisch fressenden Monstren, schält sich allerdings schnell eine sehr persönliche Handschrift.Der norwegische Fantasyfilm Trolljegeren berichtet in zeitgenössischer Verité-Manier von einem Jäger, der die beeindruckenden Fjordinseln und Wälder des nordeuropäischen Landes nach Kreaturen aus der nordischen Mythologie durchstreift. Gemeint sind natürlich Trolle. Und sie sind den historischen Quellen akribisch nachempfunden.

Die diesjährige „Nachtsicht“ nistet sich also ein zwischen Vergangenheit und Gegenwart, will Lagerfeuer sein für fünf Geschichten und viele mehr, die dann hoffentlich weiter erzählt werden, bis auch der letzte weiß, dass Trolle Christenblut meilenweit gegen den Wind riechen können. Man kann ja nie wissen.

 

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