Nachtsicht 2012

Totenwache mit (ganz viel) Cholesterin

(Markus Keuschnigg, Kurator)

„Wir kennen unsere Schattenseiten gar nicht mehr. Wir hören auf zu rauchen, zu saufen, was lassen wir noch alles weg? Wo soll da noch Interessantes entstehen? Jeder achtet halt auf seinen Cholesterinspiegel.“ Das sagt der deutsche Ausnahme- Regisseur Dominik Graf in einem Interview mit Artechock.de. Die diesjährige NachtsichtSelektion zeigt fetthaltige Filme. Weil sie sich der vorherrschenden P roduktionslogik widersetzen, weil sie mutig und unvernünftig sind. Sie sind ein Risikoinvestment.

Hell jedenfalls: der unerhörte Versuch einer Apokalypse steht wie ein Monolith inmitten der Sondermülldeponie des deutschen Erzählkinos. Da hat es schon einen produzierenden Roland Emmerich gebraucht, um das außergewöhnlich sinnliche Debüt von Tim Fehlbaum überhaupt zum Fliegen zu bringen. Dem Genrekino haftet im Bernd-Eichinger-Land immer noch das Stigma der E rfolglosigkeit, Untadeligkeit und Anrüchigkeit an, sofern es sich nicht als NaziDramolett, Comedian-Klamotte oder Til-Schweiger-Beziehungskiste verkleidet.

Auch Óskar Thór Axelsson versicherte sich der Hilfe von „ganz oben“, um dem filmkulturell vor sich hin marodierenden Island den ersten E intrag in den Gangsterfilm-Kanon zu spendieren. Svartur á Leik (Black’s Game), immerhin produziert vom dänischen Gewalt-Poeten und Crossing E urope-Darling Nicolas Winding Refn, ist höchst unanständig in seinem hyperkinetischen Formalismus. Zwischen Kamera-Posen und posierenden Kerls eingekeilt kauert die Unschuld: ein Relikt des letzten Jahrtausends.

Bis an die Grenzen gehen auch die Wiedergänger des P rogramms. Das gallische Duo Julien Maury und Alexandre Bustillo vermisst in Livide das schauergotische Motiv der „haunted mansion“ neu: Statt Gewaltexzessen wie in ihrem Debütfilm À l’intérieur (Inside; Nachtsicht 2008) kredenzen sie atmosphärische Tapeten, statt Reiz-Reaktions-Dramaturgie setzen sie auf ephemere Schwingungen. Livide ist ein unbedingter Leidenschaftsfilm, ein kommerzieller Harakiri von zwei Fanboys, die von Hollywood gefickt wurden und in den Schoß Frankreichs zurückgekehrt sind. Dorthin, wo man Individualisten im Kino noch mag und schätzt und ehrt. Wider alle Vernunft. Trotz allem Risiko.

Radikal sind auch die beiden spanischen „Nachtsicht“-Beiträge: Jaumé Balaguero und Paco Plaza haben mit ihrer Ko-Regiearbeit [REC] (Nachtsicht 2008; gefolgt von [REC]² in der Nachtsicht 2010) das Hysterienkino neu erfunden. Jetzt wandelt der eine auf Hitchcocks Spuren und beschwört mit einer handwerklich erhabenen SuspenseMiniatur mit dem nicht unironischen Titel Mientras Duermes (Sleep Tight).

Und der andere reißt die REC-Reihe zurück in die Vergangenheit: [REC]3 Genesis pfeffert die Wackelkamera in die E cke, reißt das Gruselhaus ein und flüchtet in eine neue, trügerische Freiheit. Die Monster sind jetzt Geisterbahnfiguren in einer vulgäruntergriffigen, im besten Sinne rohen Splatter-Komödie, die sich letzten Endes als Liebesfilm herausstellt. Halten wir also Totenwache für diese schönen Wiedergänger und Neuankömmlinge und ihre Geschichten. Für all diejenigen, die saufen und fressen und rülpsen und furzen. Für alle, die noch am Leben sind.

 

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