Nachtsicht 2017

Es war einmal die Wirklichkeit…

(Markus Keuschnigg, Kurator)

In der Realpolitik von katastrophaler Konsequenz und besorgniserregender Blödheit, in der Kunst durchaus wünschenswert: #alternativefacts sind Fleisch und Knochen des Fantastischen Films, ein Insistieren, dass sich hinter der wahrnehmbaren Wirklichkeit noch andere, widersprüchliche, ekstatische Wahrheiten verschanzen, die nur vermittels des Fantasieapparats an die Oberfläche, auf die Leinwand gezerrt werden können.

Das Nachtsicht-Programm serviert auch heuer wieder fünf Alternativen zum Besenkammerrealismus, herausragende und verhaltensauffällige europäische Produktionen, die sich auf jeweils eigene unverwechselbare Art den Verwerfungen und Zerwürfnissen der Gegenwart annähern: werdende Mütter, die spitze Klingen in Halsschlagadern versenken (Prevenge), Alkoholiker, die via Selbstzerstörung über sich selbst hinauswachsen (Ron GoossSSens, Low-Budget Stuntman), lesbische Terrorzellen, die sich von innen heraus selbst zersetzen (The Misandrists), Rationalisten, die von urgewaltiger Natürlichkeit überwuchert werden (Without Name), in die Enge Getriebene, die sich, anstatt zusammenzuhalten, gegenseitig sabotieren (El bar). Das Fantastische Kino lehrt Vorsicht: Spontanen Gefühlsaufwallungen ist ebenso wenig zu vertrauen wie Massenstrommeinungen. Stattdessen fordern viele Filme der heurigen Nachtsicht eine Haltung ein – zu sich selbst, zu den Mitmenschen, zur Welt um einen herum, und das durchaus im moralischen, humanistischen Sinn. Gepredigt wird nicht, stattdessen suchen und finden wir die Essenz der Dinge im Balkenbiegen und Fetzenfliegen: Kopfschuss und Kastration, Bauchstich und Vollrausch, Häusersturz und psychotropische Ekstase. Die Lektion lautet, in einer Welt wie der unsrigen, wo wahr zu falsch wird und falsch zu wahr, wo #fakenews und #alternativefacts als neue Chiffren des alten Propagandamonstrums in der Kühle der digitalen Welt fröhliche Urständ feiern, da müssen wir uns selbst verlieren, bevor wir uns wieder finden können. Hirnschmelze und Reizüberflutung als Türöffner für ein klarsichtigeres Morgen – und garantiert nebenwirkungsfreier als alle handelsüblichen Drogen.

Also dann, lasset uns beten: zu den Göttinnen und Waldgeistern, zu den Unanständigen, Unverfrorenen und Unduldbaren, zu den Abgestürzten, Verwirkten und Verkommenen. Sie alle gehören zur Nachtsicht, ihnen gehört die Nachtsicht. Wie allen anderen „creatures of the night“. Amen. Oder, wie es in Bruce LaBruces The Misandrists heißt: A(Wo)men.

 

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