Architektur und Gesellschaft 2023

Die von Lotte Schreiber kuratierte Programmsektion versammelt Dokumentarfilme, die gesellschaftliches Zusammenleben im Kontext architektonischer, geopolitischer oder ökologischer Rahmenbedingungen beleuchten.

 

Essay

GANZ SCHÖN HÄSSLICH

Lotte Schreiber, Kuratorin

Fragen nach „schön“ oder „hässlich“ sind in der Regel nur sehr schwer zu beurteilen, da sie einerseits von den Eigenschaften der jeweiligen Objekte abhängen, andererseits vom individuellen Geschmack der urteilenden Person. Die europäische Vorstellung von Schönheit wurzelt in der Antike und der damals vorherrschenden Auffassung, dass Schönheit mit Ordnung einhergehe. Als schön angesehen wurde dasjenige, dessen Teile in harmonischen Proportionen zueinander und zum Ganzen stehen. In der Architektur stand die Kategorie „Schönheit“ in den vergangenen Jahrzehnten nicht gerade im Zentrum des Diskurses. Der Blick auf die klassische Moderne zeigt jedoch, dass Ästhetik stets auch ein soziales Kriterium innovativer Architektur war. Die Moderne wollte nicht nur den Wohnraum an sich demokratisieren, sondern auch die Schönheit, die nicht länger ein Privileg der Reichen bleiben sollte. Und heute? Wie lässt sich das Streben nach Harmonie und sozialem Gleichgewicht mit den kapitalistischen Wertvorstellungen von Profitmaximierung und grenzenlosem Wachstum vereinbaren? Das Prinzip von Effizienz und Rentabilität löst immer öfter einen tiefgehenden Diskurs über soziale, architektonische und städtebauliche Qualitäten ab, gestalterische Entscheidungen bleiben häufig im oberflächlichen visuellen Eindruck stecken. Vor dem Hintergrund dieser Fragestellungen untersucht die diesjährige Programmsektion Architektur und Gesellschaft die vielschichtigen Aspekte eines schwer festzumachenden Schönheitsbegriffs.

In vier Programmen begeben wir uns auf eine Reise quer durch Europa und besuchen etwa mit Veronika Liškovás eindrücklichem Dokumentarfilm Návštěvníci eine Kleinstadt in der spektakulären Landschaft Spitzbergens. Anfänglich schier überwältigt von der atemberaubenden Schönheit des abgelegenen Ortes, erfährt die junge Sozialanthropologin Zdenka, die für eine Forschungsarbeit in die Polarregion zieht, dass hier nicht nur das ökologische Gleichgewicht in Gefahr schwebt, sondern auch die Vielfalt der örtlichen Gemeinschaft. Erkundungen um die süditalienische Stadt Taranto, einstige „Perle des Mittelmeers“, unternehmen Volker Sattel und Francesca Bertin in ihrem Dokumentarfilm Tara. Aus den Erzählungen der Einheimischen erfahren wir von den schwerwiegenden Folgen jahrzehntelanger ökologischer und ökonomischer Ausbeutung der Region. Ungeliebte brutalistische Bauwerke in Birmingham und Wien stehen im Zentrum von Paradise Lost: History in the Unmaking des Briten Andy Howlett sowie des österreichischen Kurzdokumentarfilms Bernoullistrasse 1 von Laura Mann, Robert Bettinger und Lorenz Zenleser. Kurz vor dem Abriss stehen auch mehrere Hochhäuser einer sozialen Wohnsiedlung im französischen Bonneville, zu sehr erinnern sie an ein Ghetto. Dass dies für deren Bewohner*innen den Verlust ihrer Heimat bedeutet, zeigt das einfühlsame Filmporträt Les Insulaires von Adam W. Pugliese und Maxime Faure. Der ungewöhnlichen Anhäufung luxuriöser Einfamilienhäuser in Nordmazedonien geht schließlich Anabela Angelovska in ihrem Kurzdokumentarfilm Retreat auf die Spur.

Filme der Sektion: