Tribute 2018: Edoardo Winspeare

Mit dem italienischen Regisseur Edoardo Winspeare widmet CROSSING EUROPE das diesjährige TRIBUTE einem Autorenfilmer par excellence, der durch seine jahrzehntelange intensive Beschäftigung mit seiner Heimat, den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen sowie den kulturellen Verschiebungen in Apulien als ein wichtiger Vertreter des italienischen „Neo-Neorealismus“ anzusehen ist

Geboren ist Edoardo Winspeare 1965 in Klagenfurt, lebt aber seit seiner frühesten Kindheit im süditalienischen Salento. Seine filmische Karriere begann er als Schnittassistent in New York, 1988 wurde er dann an der Hochschule für Film und Fernsehen München angenommen, die auch sein Spielfilmdebüt PIZZICATA mitproduzierte. In seiner nun fast 30-jährigen Karriere schuf Winspeare rund 40 Arbeiten, darunter finden sich neben den sechs Langspielfilmen auch Dokumentarfilme, Kurzfilme und Werbefilme. 1992 war er Mitbegründer der stilprägenden Band Officina Zoé, die für die Wiederbelebung der traditionellen Rhythmen und Tänzen (wie Pizzica und Tarantella) des Salentos sorgte und auch musikalisch in Winspeares Filmen zum Einsatz kommt. Zudem organisiert er auch Kultur-Festivals in seiner Heimatregion und ist im regionalen Landschaftsschutz aktiv.

Für die kommende Festivalauflage ist im Rahmen der TRIBUTE-Sektion die Präsentation seiner sechs Langspielfilme geplant, darunter auch seine aktuelle Arbeit LA VITA IN COMUNE, die bei den Int. Filmfestspielen von Venedig 2017 seine Weltpremiere feierte. Edoardo Winspeare wird persönlich seine Filme in Linz präsentieren (in Begleitung von der Hauptdarstellerin seiner beiden letzten Filme, Celeste Casciaro) und zudem im Rahmen eines „Director‘s Talk“ Einblick in seine Arbeitsweise und sein kreatives Schaffen geben.


Eine anthropologische Spurensuche im Südosten Italiens.

(Markus Vorauer, film scholar, professor at the University of Education Upper Austria)

Die Dekade am Beginn der 1980er- Jahre muss als bedeutender Einschnitt im italienischen Film betrachtet werden. Die auf Standardsprache getrimmten Nachsynchronisierungen wichen zusehends dem Direktton. Plötzlich wurde man mit einer Vielzahl von Sprachvarietäten konfrontiert, marginalisierte Regionen wurden für die Leinwand interessant. Sizilien und Neapel setzten den Trend, Apulien folgte in den 90ern. Während Sergio Rubini die Gegend um Bari filmisch verewigte, drehte Edoardo Winspeare seinen ersten Langfilm 1996 in der Mikroregion Salento im extremen Südosten. Seitdem hat der 1965 in Klagenfurt geborene Regisseur fast alle seine Filme im Umkreis von Lecce situiert.

Aus einer anglo-neapolitanischen Familie stammend wächst Winspeare in Depressa, einem kleinen Ort in der Provinz Lecce, auf, studiert dann an der Hochschule für Fernsehen und Film in München, die sein Debüt coproduziert. Die Entstehung von Pizzicata ist unmittelbar mit der Musikgruppe Officina Zoé verbunden, die Winspeare 1992 mit Freunden gründet. Die Band ist mitverantwortlich für das Revival des „tarantismo“, einem kulturellen regionalen Phänomen, das sich in einer pathologischen Reaktion äußert, die durch den Biss einer Tarantel hervorgerufen und deren Gift durch einen tranceartigen Tanz (der „pizzica“ oder „tarantella“) über den Schweiß ausgesondert wird. Die Liebesgeschichte zwischen einem italo- amerikanischen Piloten, der 1943 im Salento bruchlandet, und einer der drei Töchter eines Bauern, bei dem er Schutz findet, bildet die Folie für eine anthropologische Erkundung vergessener Traditionen.

Mit Sangue vivo (2000) gelingt Winspeare sein bis heute stringentester Film, der von der Hassliebe zweier Brüder mit fatalem Ausgang erzählt und alle Themen, die das OEuvre von Winspeare kennzeichnen, kondensiert: die verzweifelten Anstrengungen, eine in Auflösung befindliche Familie zu stabilisieren, den Stress, in den Menschen durch prekäre Umstände geraten, das Setting in der pittoresken Landschaft in der Provinz von Lecce, die aber durch kommerzielle Machenschaften kontaminiert ist. Formal orientiert sich der Film an jener Strömung, die gerne als „Neo-Neorealismus“ bezeichnet wird: reale Schauplätze, Laiendarsteller, Gebrauch lokaler Dialekte (der Film musste auch für Italien untertitelt werden). Ist Sangue vivo vom Produktionsetat her ein B-Picture im besten Sinne, bedeutet Il miracolo (2003) durch die Beteiligung der Rai als Geldgeber einen weiteren Schritt in die überregionale Distribution, wobei Winspeare seinen präferierten Themen treu bleibt. Wie in den späten neorealistischen Filmen steht mit Tonio ein Kind im Zentrum einer Geschichte über Einsamkeit und Isolation. Wieder mit der Rai dreht Winspeare 2008 mit Galantuomini zum ersten Mal mit zwei professionellen Schauspielern (Donatella Finocchiaro und Fabrizio Gifuni) einen Film über den wachsenden Einfluss der Sacra Corona Unita in Apulien. Winspeares pessimistischster Film ist eine Bestandsaufnahme seiner Heimat, die endgültig, wie er sagt, ihre Unschuld verloren hat. Die jüngsten Werke In grazia di Dio (2014) und La vita in comune (2017) wirken wie ein Gegenentwurf zu Galantuomini. Einmal als griechische Tragödie, einmal als Komödie, setzen sie das um, was der Soziologe Franco Cassano als „südliches Denken“ bezeichnet: eine Rehabilitation mediterraner Wertvorstellungen und Tugenden (Kultur des Geschenketauschs, kommunitäre Bindungen, Naturphilosophie, matriarchale Strukturen) als Gegenstrategie zu marktliberalen Tendenzen.

// Das Tribute 2018 wird in Zusammenarbeit mit Istituto Italiano di Cultura Vienna und Istituto Luce Cinecittà durchgeführt. // Die ausgewählten Filme werden in Anwesenheit von Edoardo Winspeare und in Kooperation mit dem Stadtkino Wien von Montag, 30. April bis Donnerstag, 3. Mai im Stadtkino im Künstlerhaus auch für das Publikum in Wien zu erleben sein. //