Biographie
Ivan Ostrochovský ist 1972 in Žilina in der Slowakei geboren. Stationen seiner Ausbildung als Filmemacher sind das Studium des Dokumentarfilms an der Akademie der Darstellenden Künste in Bratislava und ein Postgraduate-Studium an der Akademie der Künste in Banská Bystrica. Ostrochovský ist seit über zehn Jahren als Regisseur, Produzent, Drehbuchautor und Kameramann bei Film und Fernsehen tätig. Er ist Miteigentümer und Produzent bei sentimentalfilm und Punkchart. Mit seinem Dokumentarfilmdebüt ZAMATOVÍ TERORISTI (2013) erhielt er u. a. den FEDEORA-Preis (Karlovy Vary) und erregte auch erste internationale Aufmerksamkeit. Das Drehbuch schrieb er zusammen mit den beiden Co-Regisseuren Péter Kerekes und Pavol Pekarčík, die Kamera führte Martin Kollar, dessen Film 5. OCTOBER Ostrochovský 2016 produzierte. Als Regisseur, der dem Dokumentarfilm Fiktionales und dem Spielfilm Dokumentarisches abgewinnt, experimentiert er mit Genres und Erwartungshaltungen. Auch sein mehrfach ausgezeichnetes Spielfilmdebüt KOZA (2015) bricht mit gängigen Erzählkonventionen. Mit dem vielbeachteten Spielfilm SLUŽOBNÍCI, der 2020 bei der Berlinale Premiere feierte und einen Preis der Wettbewerbssektion „Encounters“ in der Kategorie Bester Spielfilm erhielt, ist Ostrochovský nun scheinbar im fiktionalen Genre angekommen und dokumentiert einen wenig beachteten Aspekt der Geschichte des tschechoslowakischen Kommunismus: den Konflikt der katholischen Kirche mit dem Regime und der „Pacem in Terris“-Vereinigung, die den Pakt mit dem Regime als Preis für ihre Unabhängigkeit, Glaubensfreiheit und Anbindung an die römisch-katholische Weltkirche einging.
Essay
Boxer, Priester, Agent, Terrorist – Vermessene Männlichkeit
Nicole Kandioler
Drei „samtene Terroristen“ stehen im Zentrum des von Ivan Ostrochovský in Zusammenarbeit mit Pavol Pekarčík und Péter Kerekes realisierten Films VELVET TERRORISTS (2013). Es sind Männer, die in der Zeit des tschechoslowakischen Kommunismus aufgrund von politischem Ehrgeiz und/oder Frustration über die herrschenden Zustände und/oder einer gewissen Prädisposition zu Gewalt mit terroristischen Aktionen (vorwiegend durch den Einsatz von selbst gebastelten Bomben) als Einzeltäter oder im Kollektiv gegen das Regime aktiv wurden. Die samtenen Terroristen sind Vorläufer jener Samtenen Revolution (November bis Dezember 1989), die ihrerseits ohne terroristische Akte und gewaltvolle Übergriffe verlief und die vor allem von friedlichen Massenkundgebungen geprägt war. Samten sind diese „Terroristen“ wohl auch, weil sie in all ihrer Bemühung um das Heroisch-Harte weich-gescheitert wirken.
„Was stört Sie am heutigen System?“, fragt einer von ihnen, Vladimír, neun junge Frauen in einem Casting. Der 60-Jährige ist auf der Suche nach einer Kandidatin, die physisch und psychisch in der Lage wäre, die revolutionären Akte auszuführen, die ihm vier Gefängnisaufenthalte eingebracht haben. „Scheinheiligkeit“, „Unaufrichtigkeit“, „Gleichgültigkeit“, „Angst“, sagen ein paar der Frauen. „Die Neo-Nazis, die mich angreifen, weil ich anders aussehe“, sagt Iva, deren Namen wir im Film nicht erfahren. „Und würden Sie im Fall des Falles so weit gehen, eine Waffe zu benutzen?“, fragt Vladimír weiter. Die Frauen zögern, eine lacht beschämt, eine sagt fast schon bedauernd: „Da bin ich mir nicht sicher.“ Nur Iva antwortet nach kurzem Zögern ganz ernst: „Ich denke, ja.“ Die Casting-Situation steht exemplarisch für die filmische Herangehensweise von Ivan Ostrochovský, der in seinen dokumentarischen Arbeiten oftmals mit semi-fiktionalen Szenarios arbeitet, um biographisch-authentische Fragmente von gelebtem Leben sichtbar zu machen und durch den dramaturgischen Kniff eines Plots gleichzeitig als Authentizitätseffekt zu entlarven. Das Casting für das „Terror-Training“ ist auch das Casting für eine Rolle in diesem Film, der bei der Berlinale 2014 internationale Aufmerksamkeit erregte. Wenn Iva auf Vladimírs Frage, ob sie eine Waffe benutzen würde, mit „Ja“ antwortet, sagt sie auch „Ja“ zu der Rolle, die sie in dem hybriden dokumentarisch-fiktiven Entwurf spielen wird. Noch deutlicher wird das, wenn Vladimír sie am Ende ihrer „Ausbildung“ fragt, ob ihre Motivation „für das, was wir hier tun, stark genug dafür“ sei, dass sie weiter machen wird. Nachdem sie lange zögert und in ihren Dosenlinsen stochert – die Linsen sind Teil des Trainings mit Vladimír und gleichsam kulinarische Veranschaulichung der Askese des Terroristen – kommt das „Ja“ schließlich wenig überzeugt und ohne Blickkontakt. Die Zweideutigkeit des Gesprächs, in der sowohl die Frage des politischen Ungehorsams als Lebensprogramm mitschwingt als auch die Tätigkeit als Protagonistin eines Dokumentarfilms, ist hier deutlich spürbar. Gerade sie ermöglicht aber auch eine spielerische Annäherung zwischen Iva und Vladimír, die trotz unterschiedlicher Diskriminierungserfahrungen zu einer respekt- und rücksichtsvollen Auseinandersetzung führt, die ihre realen individuellen Erfahrungen in ihrer Komplexität und Kompliziertheit affirmiert.
In dem zwei Jahre später realisierten Dokumentarfilm KOZA (2015) tendiert Ostrochovský noch stärker in die Richtung des Fiktionalen und erzählt eine Geschichte über den ehemaligen slowakischen Boxer Peter Baláž, genannt „Koza“ (dt. „Ziege“), in der dieser als ironisch-tragischer Antiheld in einem Roadmovie sich selbst spielt. Der Plot geht so: Koza verdingt sich als Metallmüllsammler. Als seine Freundin schwanger wird und das Kind nicht behalten will, trifft er eine Entscheidung. Zusammen mit seinem aggressiv-depressiven Chef als Agent unternimmt er eine Boxtour, die ihn durch slowakische und österreichische Provinzdörfer bis nach Wuppertal bringt. Von den 4000 Euro, die er verdienen wollte, bleiben ihm am Schluss nur 500 sowie ein paar Kopf- und Nasenverletzungen, eine Gehirnerschütterung und die Empfehlung eines Arztes, das Boxen sein zu lassen. Der Traum vom Erfolg, der im realen Leben mit einem Erstrunden-Aus bei der Olympiade 1996 so vielversprechend begann und gleichzeitig endete, lässt sich (auch in der Fiktion) nicht erreichen. „Raw“ ist ein Adjektiv, das immer wiederkehrt in den Beschreibungen des Films, der neben Förderpreisen des tschechischen Fernsehens auch den Works in Progress Award des Filmfestivals Karlovy Vary gewann und als slowakischer Oscar-Vertreter nominiert war. Dabei ist der Film gerade das Gegenteil von „unbearbeitet“. Die Idee zu KOZA kommt Ostrochovský, als Baláž sich auf der Suche nach einem bezahlten Job, mit dem er für die Abtreibung der Freundin aufkommen kann, an ihn wendet. Als die Absicht, Balážs Leben in authentischen Szenen seines Alltags festzuhalten, scheitert, entscheiden sich Ostrochovský und der Produzent, Marek Urban, einen Spielfilm zu drehen. Die Bilder der fiktiven Geschichte sind aus dem Material der rauen Wirklichkeit des Roma-Viertels und erreichen eine Unmittelbarkeit (von der heruntergekommenen Hausfassade bis zur wundgeschlagenen Haut), die beinahe schmerzhaft ist. Ähnlich wie der semi-dokumentarische Film VELVET TERRORISTS räumt jedoch auch der semi-fiktionale Film KOZA seinem Protagonisten die Möglichkeit einer selbstbestimmten Erzählung ein. Eine Erzählung, die die Zuschauer*innen der (mutmaßlichen) Wirklichkeit gleichzeitig entfremdet und näherbringt. Wobei nur die Protagonisten selbst wissen, was der Maßstab der filmischen Skizze ist, die Realität und Fiktion ins Verhältnis setzt.
Als eine ähnliche Einladung zur Selbstermächtigung kann man den Film 5 OCTOBER (2016) von Martin Kollar begreifen, den Ivan Ostrochovský produziert hat. In der knapp 50-minütigen Arbeit, die ganz ohne gesprochene Sprache auskommt, begleitet Martin Kollar seinen Bruder Ján auf eine Reise, die ihn auf seinem Fahrrad durch westeuropäische Landstriche bis zurück in die Slowakei führt. Die Planung und Durchführung der Reise erfolgt vor dem bedrohlichen Horizont jenes 5. Oktober, an dem Ján eine lebensgefährliche Operation über sich ergehen lassen muss, bei der ein Tumor an seiner linken Gesichtshälfte entfernt werden soll, dessen Wachstum ebenfalls sein Leben bedroht. Die kathartische Begegnung mit sich selbst, mit der Natur, die er in lakonischen Formulierungen und Skizzen in seinem Kalender kommentiert, bläst den auf das Datum reduzierten Raum auf, der Ján zum Leben bleibt, und erfüllt ihn mit den Bildern einer Welt, die ihm sein Bruder mit seinem Film zum Geschenk macht.
Die erste eindeutig als Spielfilm gelabelte Arbeit SERVANTS (2020) scheint aus dem hier Beschriebenen auszubrechen. In stringent komponierten Schwarz-Weiß Bildern wird darin ein historisches Sujet, die katholische Kirche im Konflikt mit dem tschechoslowakischen Totalitarismus, im Stil des Film Noir erzählt. Die Diener, die hier konfrontiert werden, sind zwei verschiedenen Mächten verpflichtet: dem Glauben und der Ideologie. Die zwei jungen Seminaristen, die voller Zuversicht in die theologische Fakultät in Bratislava eintreten, stehen einem Agenten des Geheimdienstes gegenüber, der ebenso abgebrüht wie allein ist. Die Bilder des Agenten, die ihn in Unterwäsche und Bademantel am Bügelbrett in seiner Wohnung im Plattenbau zeigen, sowie die frontalen Detailaufnahmen des sich über seinen Körper ausbreitenden Hautauschlages haben fast schon dokumentarische Qualität und stehen mit der starken Ästhetisierung der Mise-en-scène im Widerspruch. Wie schon bei KOZA distanziert die formale und kompositorische Rigorosität die Zuschauer*in nicht, sondern drängt geradezu Elementarisches in den Fokus der Aufmerksamkeit: die blutende Nase, die Poren des Gesichts, den Schimmel an der Wand, die geschundene Haut.
Vom Boxer über den Priester und den Geheimagenten zum Terroristen – und vom Komponisten zum Punker (wenn man die bemerkenswerten Filme über die slowakischen Komponisten Ilja Zeljenka, 2010, und Pavol Šimaj, 2014, sowie die Produktion von PUNK NEVER ENDS!, 2019, Regie: Juro Šlauka, hinzuzählt): Die Filme von Ivan Ostrochovský vermessen Männlichkeit im Wandel von Geschichte zu Gegenwart sowie die Vorstellungen und Imaginationen, die gemeinhin mit Männlichkeit verbunden sind. So sehr einige von ihnen auf den ersten Blick wie altbekannte Vertreter einer toxic masculinity wirken, so sehr verweisen doch die genre-transzendierenden Experimente Ostrochovskýs, an denen seine Protagonisten maßgeblich Anteil haben, auf die potentielle Überwindung historisch werdender Zuschreibungen.
"Produzent zu sein ist die einzige Möglichkeit, Filme so zu machen, wie ich es möchte. Im Grunde genommen ist es eine Notwendigkeit. Ich glaube nicht, dass man einen Produzenten mit gesundem Menschenverstand finden würden, der die Art und Weise, wie ich Filme drehe, gutheißen würde. Das heißt, ich drehe zuerst den ganzen Film wie in einer "Rohfassung", und dann drehe ich den ganzen Film noch einmal."
Ivan Ostrochovský, www.aic.sk, Februar 2020
Filmographie
Ivan Ostrochovský – Filme bei Crossing Europe 2021
Regie:
2009: ILJA, Kurzdokumentarfilm.
Drehbuch: Ivan Ostrochovský, Marek Leščák.
2013: ZAMATOVÍ TERORISTI /
VELVET TERRORISTS, Dokumentarfilm.
Co-Regie: Péter Kerekes,
Pavol Pekarčík.
Drehbuch: Ivan Ostrochovský,
Péter Kerekes, Pavol Pekarčík.
2015: KOZA, Drama.
Drehbuch: Ivan Ostrochovský, Marek Leščák.
2020: SLUŽOBNÍCI / SERVANTS, Drama.
Drehbuch: Ivan Ostrochovský, Marek Leščák, Rebecca Lenkiewicz.
Produktion:
2012: AŽ DO MESTA AŠ / MADE IN ASH, Drama.
Regie: Iveta Grófová
2016: 5. OKTÓBER / 5 OCTOBER, Dokumentarfilm.
Regie: Martin Kollar
2019: PUNK JE HNED! / PUNK NEVER ENDS!, drama.
Regie: Juro Šlauka
Tribute Talk (Online)
Ivan Ostrochovský
In Kooperation mit Kunstuniversität Linz | Zeitbasierte und Interaktive Medien
Moderation: Nicole Kandioler